Schmerz
Schmerz verstehen – Lebensqualität zurückgewinnen.
Michelle Huber
Physiotherapeutin
Das Wichtigste zuerst:
- Schmerz ist kein verlässlicher Maßstab für Gewebeschäden
- Je länger ein Schmerz besteht, desto unberechenbarer wird die Verbindung zum ursprünglichen Auslöser
- Schmerz ist multifaktoriell
- International Association for the Study of Pain
Jeder kennt ihn, nahezu jeder hatte ihn mal. Schmerz. Die Einen haben ihn seit einer Verletzung beim Sport, die anderen fühlen sich hilflos, weil er seit Jahren täglicher Begleiter des Alltags ist. Wir Therapeuten bekommen häufig auf die Frage nach dem Vorhandensein von Schmerzen die Antwort „es geht, ich hab nur den normalen Schmerz“. Doch wann ist Schmerz eigentlich zur Normalität geworden? Und was genau ist Schmerz eigentlich? Lange Zeit dachte man, Schmerz sei ein einfaches Alarmsignal des Körpers auf Gewebeschäden. Doch moderne Forschung zeigt: Schmerz ist weitaus komplexer. Er ist das Ergebnis eines Zusammenspiels biologischer, psychologischer und sozialer Faktoren. Wir Therapeuten führen an dieser Stelle gerne das biopsychosoziale Modell an.
Doch was ist das biopsychosoziale Modell?
Definition
Das biopsychosoziale Modell beschreibt Gesundheit und Krankheit als Ergebnis eines dynamischen Zusammenspiels biologischer, psychologischer und sozialer Faktoren. Es erweitert das rein biomedizinische Krankheitsverständnis um psychische Prozesse (z. B. Stressbewältigung, Emotionen) und soziale Einflüsse (z. B. Arbeitsumfeld, soziale Unterstützung), ohne eine dieser Ebenen zu überbetonen.
In der Schmerzmedizin dient es als Grundlage für eine integrative Versorgung, die neben der körperlichen Befundlage auch subjektive Erfahrungen, Verhaltensweisen und Lebenskontext berücksichtigt – mit dem Ziel, Heilungspotenziale zu fördern, Funktionsfähigkeit zu verbessern und die Lebensqualität zu erhöhen.
Warum ist das Modell wichtig?
Das Modell hilft zu verstehen, warum zwei Menschen mit ähnlicher Verletzung sehr unterschiedlich leiden oder genesen. Es erklärt, warum z. B. chronischer Schmerz oft nicht nur durch körperliche Schäden erklärbar ist – und warum rein medikamentöse oder operative Maßnahmen nicht immer helfen.
Das bedeutet: Um den Schmerz gut zu behandeln, schauen wir uns alle diese Bereiche an. So finden wir gemeinsam den besten Weg, damit du dich besser fühlst und deine Lebensqualität wieder steigt.
Das biopsychosoziale Modell Was kann ich tun, wenn ich Schmerzen habe?
Lerne Schmerz zu verstehen
Was man heute weiß ist:
Schmerz ist kein verlässlicher Maßstab für Gewebeschäden. Ein intensiv wahrgenommer Schmerz bedeutet nicht zwangsläufig, dass im Körper eine schwere Verletzung vorliegt – und umgekehrt kann ein großer Gewebeschaden überraschend wenig weh tun.
Ein Beispiel hierfür ist Henry K. Beechers Beobachtung während des zweiten Weltkriegs. Ihm fiel auf, dass Soldaten, die damals auf dem Schlachtfeld schwer verwundet worden waren, überraschend oft über weniger Schmerzen klagten, als Patienten in der Heimat, die nur geringfügige Verletzungen erlitten hatten (Beecher, 1949).
Schmerz wird von vielen Faktoren beeinflusst. „Schmerz ist multifaktoriell“. Diesen Satz hast du vielleicht schon mal von einem unserer Physios gehört. Und das sagen wir nicht, weil wir keine Ahnung haben, wieso du Schmerzen hast, sondern was wir damit meinen ist: Einflussfaktoren für die Schmerzentstehung können nicht nur eine Verletzung sein, sondern auch unsere Gedanken, Gefühle, unser soziales Umfeld, allgemeiner Stress, Zukunftsängste, die Erinnerung an eine vorangegangene Verletzung und vieles mehr.
- Hatte meine beste Freundin vielleicht ähnliche Beschwerden, musste operiert werden und die OP lief bei ihr nicht gut?
- Hatte ich schon mal einen Kreuzbandriss und dadurch einen monatelangen Rehaprozess, den ich nicht noch einmal durchleben möchte?
- Möchte ich in einem Monat an der Deutschen Meisterschaft teilnehmen, bin gerade nicht fit genug dafür und habe Angst dadurch den Aufstieg in meiner Fußballkarriere zu verpassen?
- Bin ich selbstständig, kann gerade schmerzbedingt nicht arbeiten und habe Angst nicht mehr genug Geld zu verdienen und meine Existenz zu verlieren?
Auch diese Art von Gedanken können die Schmerzwahrnehmung erheblich verstärken.
Je länger ein Schmerz besteht, desto unberechenbarer wird die Verbindung zum ursprünglichen Auslöser. Chronischer Schmerz verselbständigt sich oft. Das anfängliche Knieproblem mag längst verheilt sein, doch der Schmerz bleibt als unerwünschtes Andenken. Zudem kann der Schmerz bei einer Chronifizierung meistens nicht mehr scharf lokalisiert werden, sondern sich diffus ausbreiten. Häufig sind Behandlungen auf Strukturebene und ausschließlich manuell dann nicht mehr zielführend. Das psychosoziale Modell wird dann zunehmend wichtiger.
Schmerz entsteht, wenn das Gehirn Gefahr wittert. Man kann sich Schmerz als bewusstes Alarmsignal vorstellen, das aufleuchtet, wenn das Nervensystem der Meinung ist, der Körper müsse geschützt werden, selbst wenn objektiv keine akute Bedrohung mehr besteht.
(Moseley, 2007; Bassimtabar 2025; Jensen 2025)
Bewegung ist der Anfang – Verständnis bringt dich ans Ziel
Physiotherapeutische Übungen sind mehr als nur Pflichtprogramm – sie sind dein Werkzeug, um wieder stark, beweglich und schmerzfrei zu werden. Wenn du verstehst, warum du bestimmte Übungen machst, bekommst du ein klares Ziel vor Augen und es fällt dir leichter eine Routine aufzubauen. Du siehst nicht nur, was du tust, sondern wofür du es tust. Und genau das gibt dir die Kraft, dranzubleiben – auch an Tagen, an denen die Motivation fehlt. Denn du trainierst nicht einfach nur – du holst dir Stück für Stück deine Lebensqualität zurück.
Verstehe die folgenden Modelle und lerne sie selbst anzupassen
- Biopsychosoziales Modell s.o.
- Die Regenerationspyramide
- Der Belastungskreis
- Vielfältigkeit der Faktoren
- Der Schmerzeimer

Die Pyramide verdeutlicht: Erst wenn die grundlegenden Maßnahmen stimmen, ergeben zusätzliche Maßnahmen Sinn.
Der Belastungskreis:Dein Körper baut nach einer Entlastungsphase durch Schmerz, Urlaub, Schonung etc. ab. Bestimmte Aktivitäten sind dann nicht mehr in deinem Belastungskreis. Schmerzen oder Probleme können nun gegebenenfalls eher auftreten als vor deiner Entlastungsphase. Die Lösung: Die Aktivität an die aktuelle Situation angepasst kontinuierlich wieder steigern, bis du die Ursprungssituation wieder erreicht hast.

Faktoren die Schmerz beeinflussen können:
Individual factors → Individuelle Faktoren
Psychological factors → Psychologische Faktoren
Biomechanical factors → Biomechanische Faktoren
Nociceptive* detection and processing → Nozizeptive Wahrnehmung und Verarbeitung
Tissue injury or pathology → Gewebeverletzung oder Pathologie
Behavioral/lifestyle → Verhaltens- / Lebensstilfaktoren
Contextual factors → Kontextfaktoren
Social/work factors → Soziale- / Arbeitsfaktoren

Der Schmerzeimer: Diese alltäglichen Dinge haben in negativer Form wie beispielsweise schlechtem Schlaf, unausgewogener Ernährung, Ärger in Beziehungen, Bewegungsmangel etc. einen Einfluss auf deinen Körper und seine Belastungstoleranz. Kannst du irgendwann mit diesen Stressoren nicht mehr umgehen, kann dein Eimer überlaufen und somit deine Belastbarkeit erreicht sein. An diesem Punkt bist du anfälliger für Schmerz.
Lösung A: Eimer vergrößern
Lösung B: Stressoren aus dem Eimer nehmen
Fazit:
Schmerz verstehen heißt Kontrolle zurückzugewinnen. Es ist wichtig, dass du deinen Schmerz verstehst, um besser mit ihm umgehen zu können. Wenn du weißt, warum du Schmerzen hast und wie sie entstehen, kannst du gezielter Maßnahmen ergreifen und Behandlungen besser nutzen. Das Verständnis kann auch Ängste verringern und ein Angst-Vermeidungsverhalten verhindern. Studien zeigen, dass Menschen, die ihren Schmerz besser verstehen, oft auch weniger Schmerzen empfinden und sich insgesamt wohler fühlen. Deshalb lohnt es sich, dich mit den Ursachen und Mechanismen deines Schmerzes auseinanderzusetzen, um eine wirksame Linderung zu erreichen. Solltest du irgendwann wieder ähnliche Beschwerden bekommen, kannst du dir vielleicht sogar selbst helfen, und es ist kein Grund mehr zur Panik, wenn du einige Wochen auf einen Physio- oder Arzttermin warten musst. Denn: Du kannst jetzt selbst wirksam werden!
Dein Körper ruft – wir hören zu.
Unser Angebot hier im Medifit:
Quellen
Bassimtabar, A. (2025). Schmerzmanagement: Ein wissenschaftliches Kompendium für die Physiotherapie. Springer.
Beecher, H. K. (1949). The powerful placebo. Journal of the American Medical Association, 138(17), 282–287.
Jensen, J. (2025). Schmerz verstehen: Fünf wegweisende Artikel im Überblick. DK Sports Academy. Zugriff nur mit Abonnement. Abgerufen am 29. Juli 2025, von https://academy-dk.de/simple-tipps/schmerz-verstehen-fuenf-wegweisende-artikel-im-ueberblick/
Kade, F. (2024). Schmerzanalyse bei Rückenschmerzen [Onlinekurs]. Zugriff nur mit Kauf. Abgerufen am 29. Juli 2025, von https://www.felixkade.de/schmerzanalyse-bei-rueckenschmerzen-onlinekurs
Moseley, G. L. (2007). Reconceptualising pain according to modern pain science. Physical Therapy Reviews, 12(3), 169–178. https://doi.org/10.1179/108331907X223010